Der Film
Der Film übersetzt den Stoff in eine nicht allzu fern erscheinende Zukunft, deren Gesellschaft sich dem Prinzip der Selbstoptimierung verschrieben hat. Hinter dem gut klingenden Slogan „Die Starken helfen den Schwachen“ verbirgt sich eine knallharte Trennung der Gesellschaft in Leistungsspender und Leistungsempfänger. Werte wie Gemeinschaft und Teamfähigkeit werden großgeschrieben, doch wer nicht passt, wird in die unteren Sektoren aussortiert. Es geht nicht um den Einzelnen, sondern darum, wie dieser in der Gruppe funktioniert. Was sich Gemeinschaft nennt, ist in Wirklichkeit ein harter Konkurrenzkampf um die besten Zukunftschancen. Dem System ständiger Leistungskontrolle und Überwachung kann sich keiner entziehen, weder Schüler noch Lehrer. Es gibt diejenigen, die sich dem System gläubig unterwerfen und diejenigen, die daraus ihren persönlichen Vorteil zu ziehen wissen. Und dann ist da der Schüler Zach, der im Film zum Helden avanciert und sich in seinem Tagebuch fragt: „Warum bin ich nur so, warum kann ich nicht so sein, wie die anderen? Ich schaue mich um und alle sehen zufrieden aus mit dem, wie es ist. Was ist falsch mit mir?“ Das Gefühl der Unzufriedenheit mit einem System, in dem es nur um bloßes Funktionieren geht, wird pathologisiert. Tatsächlich setzt die Teamleitung darauf, jegliche unerwünschte psychische Regung zu medikamentieren, denn „zu starke Emotionen hindern uns am Erfolg“. Und Titus, der jugendliche Mörder, bestätigt: „Es ist gut, nichts zu fühlen. Es macht mich stark. Ich kann Dinge tun, die sonst keiner tun kann.“ In seiner Figur gipfeln demnach die Auswüchse einer Gesellschaft, in der Leistung der einzig verbliebene Wert ist. Bis zum Ende beharrt er darauf: „Ich bin nicht krank! Ich bin der Beste meines Jahrgangs! Ich bin die Elite, die diese Gesellschaft führt!“
In was für einer Welt leben wir?
In Verbindung mit den unterschiedlichen Erzählsträngen, die das Stück nicht länger nur mit den Augen des Lehrers, sondern vor allem auch aus der Perspektive der Schüler erzählen, gelingt dem Regisseur eine Aktualisierung des Stoffes, die den Nerv der heutigen Zeit trifft. Eine Schülerin schreibt: „Jeder will gut dastehen. Es geht ständig darum, nach Außen hin einen perfekten Schein aufrecht zu erhalten.“ Eine andere: „Indem jeder nur an sich, seinen eigenen Vorteil und sein Weiterkommen denkt und danach handelt, wird das Miteinander der Menschen kälter. Andersartige oder schwächere Individuen fallen durch das Raster.“ Die Parallelen zwischen dieser als Dystopie gekennzeichneten Gesellschaft und der von Horvath beschrieben Welt sind frappierend. Vor allem aber werfen sie Fragen auf, die sich an unsere Gegenwart richten: In was für einer Welt leben wir? In was für einer Welt wollen wir leben?
Diese Fragen inspirierten
Diese Fragen inspirierten den Literaturkurs der Jahrgangsstufe Q1 am Erzbischöflichen Gymnasium Marienberg (Neuss) unter Leitung von Frau Keßler dieses Stück im Schuljahr 2017/18 auf die Bühne zu bringen. Mit Genehmigung von die Film GmbH wurde das Drehbuch in gemeinsamer Arbeit in ein Theaterstück umgewandelt. Es galt die verschachtelte, multiperspektivische Erzählweise des Films in ein chronologisch angelegtes Stück klassischer Bauart zu transformieren, das dem Zuschauer das Mitdenken ermöglicht und ihn gleichzeitig mit Fragen entlässt. Gegenüber den filmischen Special-Effekts wurden dabei die Möglichkeiten theatralischen Spiels erprobt. Besonders die Eingangsperformance, in der die Schüler mit Kopfhörern und starrem, nach vorne gerichtetem Blick von allen Seiten die Bühne betraten, war ein solcher besonderer Theater-Moment. „Richtig gruselig war diese Auftritt“, bemerken die Schülerinnen aus Klasse 9, die als Zuschauer zur Aufführung gekommen waren, „jeder ist nur auf sein Ziel fokussiert, und schaut den anderen nicht einmal an.“
Warum aber heißt das Stück „Jugend ohne Gott“
Warum aber heißt das Stück „Jugend ohne Gott“ ? Im Film evozieren die an den Wänden hängenden Bilder Caravaggios den religiösen Bezug, im Theaterstück erinnert daran allein das Kreuzzeichen, welches das Kindermädchen angesichts des Selbstmordes ihres Zöglings schlägt. Wo also ist Gott in dieser Gesellschaft? Genau dies ist die Frage, die das Stück aufwirft. Im Roman geschieht dies explizit, in Film und Theaterstück auf symbolische Art und Weise. Für die Schülerinnen aus Klasse 9, die den Roman zuvor im Unterricht behandelt hatten, war der Transfer im anschließenden Gespräch unmittelbar zu greifen: „Es ist eine Gott verlassene Gesellschaft, die dargestellt wird. Eine Gesellschaft, die Gott vergessen hat.“ Eine Schülerin des Literaturkurses mutmaßt: „Vielleicht gibt das Stück eine Antwort auf die Frage, warum es auch in einer technisch und wissenschaftlich so weit fortgeschrittenen Welt noch wichtig ist, an Religion festzuhalten.“ In ihrer Rückschau hält sie fest, was auch viele Zuschauer nach dem Stück bestätigten: „Mit unserer Inszenierung dieser Problematik haben wir die Menschen - hoffentlich - zum Nachdenken gebracht, welcher Ideologie sie selbst folgen und vielleicht, haben sie sich in Teilen selbst in der dargestellten Gesellschaft wiedererkennen können.“
Es ist das persönliche Zeugnis
Im Gespräch mit den neunten Klassen über die Parallelen zwischen Roman, Film und Theaterstück steht am Ende ein hoffnungsvolles Fazit: Es geht nicht darum, dass früher alles besser war und alles immer nur schlimmer wird. Sondern es geht darum, sich bewusst zu machen, dass es auf den Einsatz eines jeden Einzelnen ankommt. Denn das ganze System stützt sich auf genau diesen Einzelnen.
Im Stück selbst wird diese Thematik anhand der Frage nach der Wahrheit verhandelt. So entscheidet sich der Lehrer dafür, seine eigene Schuld zu bekennen und die Wahrheit zu sagen. Es ist, als würden plötzlich die Fassaden aus Lügen zusammenbrechen, die mühsam aufgerichtet, das Leben einer ganzen Gesellschaft bestimmen. Und dieser Zusammenbruch ist dramatisch. Der Lehrer selbst konstatiert: „In dieser Gesellschaft führt die Wahrheit oft zu einem größeren Schaden als sich einer großen Lüge anzupassen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass mein Teil der Wahrheit niemals gegen die Lüge, die die Existenz so vieler ausmacht, ankommen wird.“ Aber sein Zeugnis wirkt befreiend für all diejenigen, die dasselbe empfinden. Im Roman bekommt der Lehrer gegen Ende Besuch von einem Schüler, den er in der Klasse immer übersehen hatte. Dieser sagt ihm: „Damals haben wir alle unterschrieben, dass wir Sie nicht mehr haben wollen - aber ich tat’s nur unter Druck (…). Und dann allmählich fand ich noch drei, die auch so dachten.“ Es sind nicht die moralischen Appelle, sondern das persönliche Zeugnis, das überzeugt und dem Zeitgeist entgegen wirkt.
Die Befreiung beginnt hier.
Anstatt sich in innerer Emigration zurückzuziehen oder zu versuchen, sich mit dem Establishment zu arrangieren, wird hier eine Alternative vorgeschlagen, die in erster Linie darin besteht, ein eigenes Urteil zu riskieren. Ein Urteil, in dem sich andere wiederfinden können und das genau auf diese Art und Weise seine gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltet. So gründen die Jugendlichen im Roman einen „Klub“, in dem sie sich treffen, um die Dinge nicht einfach nur stumm zu ertragen, sondern darüber zu reden, „wie es sein sollte auf der Welt“ . Sind das bloß romantische Fantasien? Eine bloße Utopie? Oder ist es nicht vielmehr der Beginn der Befreiung von all jenen Ideologien, denen wir uns Tag für Tag unterwerfen, indem wir einem Idealbild von Selbstoptimierung und Perfektion nacheifern, das vom jeweiligen Machthaber vorgegeben wird. Es mag begründet werden mit dem größten volkswirtschaftlichen Nutzen wie es zu anderen Zeiten die Vorstellungen von rassischer Überlegung waren, die als Kriterium angelegt wurden. Es mag ummantelt sein durch wohl klingende, humanistische Heilsversprechen oder offen auf psychische und physische Gewalt rekurrieren. Gemein haben all diese vermeintlichen Ideale, dass dabei das Wohl des Einzelnen zurückstehen muss zugunsten eines höheren Zweckes der Gemeinschaft. Die Frage nach Gott aber setzt nicht auf der kollektiven, sondern auf der individuellen Ebene an. Es geht nicht um die Werte einer abstrakten Gesellschaft, sondern um die Beziehung des Einzelnen zur Wahrheit seines Lebens. So hält Zach dem Lehrer vor: „Wieviel Kraft muss es kosten, sich jeden Tag selbst zu belügen!“ Das Bekenntnis zur Wahrheit erscheint demnach weniger als heldenhafter Widerstandes, Gehorsam gegenüber einem moralischen Gebot, sondern als ein Akt der persönlichen Befreiung. Die Veränderung der Gesellschaft beginnt genau hier.
Katharina Kessler